EM 2018: Chemtai-Salpeter schreibt israelische Sportgeschichte
So stark wie noch nie
Überraschungstäterin ist Chemtai-Salpeter keine. Fehlende Erfolge in den letzten Jahren sind mit überzeugenden Erklärungen belegbar. Im Dezember 2014 bekam das Paar Salpeter ihren Sohn Roy. 2016, bei den Olympischen Spielen von Rio, wo sie den Marathon nicht beendete, trat sie mit einem Facebook-Post eine Diskussion über das Stillen von Profisportlern und Müttern los. Denn sie führte bei den Europameisterschaften in Amsterdam und bei den Spielen von Rio auftretenden Schulterproblemen auf das größere Gewicht ihrer mit Muttermilch gefüllten Brüste zurück. Kurz zuvor hatte sie im Trainingslager versucht, abzustillen. 2018 startete sie aber topfit in die Saison und ließ mit einem israelischen Landesrekord im 10.000m-Lauf beim Europacup in London – gleichzeitig europäische Jahresbestleistung – aufhorchen.
Spannende Tempowechsel
Im 10.000m-Finale von Berlin hatte Chemtai-Salpeter von Beginn an alles im Griff. Bei hohen Temperaturen und aufgrund eines Regenschauers am frühen Abend hoher Luftfeuchtigkeit lautete ihr Plan, mit schnellem Tempo die Konkurrenz frühzeitig zu überfordern. Und das gelang. Nach einem Kilometer, den die am Ende nicht im Ziel ankommende Rumänin Ancuta Bobocel angeführt hatte, übernahm Chemtai-Salpeter das Kommando. Gemeinsam mit Titelverteidigerin Yasemin Can sorgten die beiden gebürtigen Kenianerinnen für ein hohes Tempo. Allerdings kein gleichmäßiges. Immer wieder forcierten die beiden und ließen wieder ein bisschen locker. Daher entstanden immer wieder Lücken zu den Verfolgerinnen, die ein gleichmäßiges Tempo suchten. Die erste nach zwei Kilometern sah Bobocel noch gemeinsam mit den beiden an der Spitze. Rund 800 Meter später fanden Susan Krumins und Meraf Bahta den Anschluss.
Nach exakt vier Kilometern drückte die Israelin noch einmal auf das Gas. In einer Teilzeit von 3:04 Minuten folgte der mit Abstand schnellste Kilometer an der Spitze. Sofort teilte sich die Spitzengruppe in zwei Duos. Chemtai-Salpeter und Can vorne, Krumins und Bahta dahinter – Bobocel fiel hoffnungslos zurück. Während Krumins nach knapp sechs Kilometern den Anschluss wieder geschafft hatte, konnte Bahta die Lücke nicht ganz schließen. Es folgte nun der letzte taktische Pfeil von Chemtai-Salpeter mit einer weiteren Tempoverschärfung einen Kilometer später. Diese führte zu einer Kilometer-Teilzeit von 3:08 Minuten (die vierte von fünf unter 3:10 im Rennen) und riss eine Lücke zu Krumins, die die Holländerin nicht mehr schließen konnte. Wie ein Uhrwerk spulten die beiden die letzten Runden im Olympiastadion von Berlin ab – ungefährdet vom Rest des Feldes, aber stets mit einer Lücke von zwei bis drei Sekunden. Die 29-jährige Israelin hatte alles richtig getimt und jubelte nach 31:43,29 Minuten über die Goldmedaille. Angesichts der Bedingungen in Berlin war dies eine hervorragende Zeit! „Ich bin überglücklich. Ich wollte unbedingt gewinnen und wusste, dass es ein hartes Rennen würde. Ich musste eine Vorentscheidung treffen, um nicht am letzten Kilometer angreifbar zu sein. Diese Medaille ist eine Ehre für mich und mein Land“, jubelte die Siegerin, die insbesondere ihre gute mentale Vorbereitung betonte.
Mit letzter Kraft zu Silber
Mit aller letzter Kraft rettete sich Susan Krumins, früher unter dem Mädchennamen Kuijken bekannt, durch die letzte Runde. Auf den letzten Metern war sie so erschöpft, dass sie nach vorne zu kippen drohte. Ihr war anzusehen, wie hart das Rennen war. Bereits nach zwei Dritteln signalisierte ihr Gesichtsausdruck den puren Kampfeswillen. Etwas anderes als ein Kampf war es nicht mehr, einer der mit einer Belohnung endete. Krumins, heuer Siegerin beim Österreichischen Frauenlauf in Wien, hat bei diversen internationalen Meisterschaften mehrfach nachgewiesen, dass sie am Punkt X immer in Topform ist und ihre Leistungen abliefert. Viermal wurde sie bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen im 5.000m-Lauf Achte, was für europäische Läuferinnen auf globalem Niveau durchaus beachtlich ist. Herausragend ist aber Rang fünf bei den Weltmeisterschaften von London 2017, als sie eine halbe Minute schneller lief als in Berlin. Dort gab es die zweite EM-Medaille nach Rang drei in Zürich über die halbe Distanz.
Das Podest komplettierte Meraf Bahta, die auf dem neunten Kilometer die entthronte Titelverteidigerin Yasemin Can überholte. Die Türkin hatte sich mit der Tempogestaltung in der ersten Hälfte maßlos übernommen und wurde Fünfte. Ob Bahtas Bronzemedaille angesichts der schwedischen Medienberichte von drei verpassten Dopingkontrollen (siehe RunAustria-Bericht) nun ein Freudenereignis ist, müssen die Ermittler in diesem Fall klären. Sportlich steht eine Zeit von 32:19,34 Minuten zu Buche.
Reh zufrieden mit viertem Platz
Auch Alina Reh kam im Finale noch an Can vorbei und belegte Platz vier, der sie glücklich stimmte. „Ich habe Schritt für Schritt das Rennen bewältigt. Das Publikum war fantastisch. Es liegen noch einige Jahre in der Leichtathletik vor mir und große Ziele“, fasste die 21-Jährige zusammen. Nach einer bisher alles andere als idealen Saison mit zwei Verletzungsunterbrechungen sah Reh über die 10.000m eine bessere Medaillenchance als über die halbe Distanz, hatte schlussendlich aber keine wirkliche Möglichkeit, Edelmetall zu gewinnen. Bereits früh riss der Kontakt zur Spitze, die Konkurrenz war einfach zu stark. Mit ihrer Zeit von 32:28,48 Minuten blieb sie nur elf Sekunden über ihrem persönlichen Bestwert – das ist angesichts der Bedingungen in Berlin durchaus erstaunlich. Außerdem erzielte die 21-Jährige das beste deutsche EM-Ergebnis in dieser Disziplin seit Kathrin Ullrichs Silbermedaille 1990. Weniger gut lief es für Rehs Landsfrauen Natalie Tanner (14.) und Anna Gehring, die wie sieben weitere Läuferinnen das Ziel nicht erreichte. Darunter auch Halbmarathon-Europameisterin Sara Moreira.
Ergebnis 10.000m-Lauf der Frauen
Gold: Lonah Chemtai-Salpeter (Israel) 31:43,29 Minuten
Silber: Susan Krumins (Niederlande) 31:52,55 Minuten
Bronze: Meraf Bahta (Schweden) 32:19,34 Minuten
4. Alina Reh (Deutschland) 32:28,48 Minuten
5. Yasemin Can (Türkei) 32:34,34 Minuten
6. Alice Wright (Großbritannien) 32:26,45 Minuten
7. Charlotta Fougberg (Schweden) 32:43,04 Minuten
8. Sviatlana Kudzelich (Weißrussland) 32:46,34 Minuten
9. Maitane Melero (Spanien) 32:52,59 Minuten
10. Sara Ribeiro (Portugal) 32:53,71 Minuten
…
14. Natalie Tanner (Deutschland) 33:22,21 Minuten
DNF Anna Gehring (Deutschland
DNF Ancuta Bobocel (Rumänien)
DNF Sara Moreira (Portugal)
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