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Triumph für Kamworor, Drama um „local hero“ Cheptegei
Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Die Stimmung auf den randvollen Tribünen im Kololo Independence Ground kann nicht anders beschrieben werden als mit diesen beiden entfernten Polen. Es war alles angerichtet für eine riesige Party, das Stimmungshoch wurde jäh gestoppt…
Himmelhoch jauchzend – zu Tode betrübt. Die Stimmung auf den randvollen Tribünen im Kololo Independence Ground kann nicht anders beschrieben werden als mit diesen beiden entfernten Polen. Es war alles angerichtet für eine riesige Party, das Stimmungshoch wurde jäh gestoppt und von einer grenzenlosen Enttäuschung überlagert. Das Rennen der Herren über die Distanz von knapp zehn Kilometern (fünf Runden à zwei Kilometer, mit minimal kürzerer Start- und Schlussrunde) schrieb nämlich zwei Storys: erstens der Triumphlauf von Geoffrey Kamworor, der als erster Läufer seit Kenenisa Bekele im Jahre 2006 erfolgreich seinen Titel verteidigen konnte und zweitens das beinahe herzzerreißende Drama um Lokalmatador Joshua Cheptegei, der alles riskierte und alles verlor.
Volles Risiko
Mut kann man sich nicht kaufen! Und daher stellte sich der junge Joshua Cheptegei nicht in die Schlange an der Supermarkt-Kassa, sondern konzentrierte sämtliche verfügbare Courage in einen Impuls und nahm seine Beine in die Hand. Die Tempoverschärfung Ende der dritten von fünf Runden hinterließ Eindruck. Einzig Titelverteidiger Geoffrey Kamworor heftete sich in den Windschatten des 21-Jährigen, der Rest des Feldes fiel lang aufgereiht zurück. Das Tempo bis dato war nicht langsam, obwohl eine relativ große Spitzengruppe die ersten zwei Runden gemeinsam absolviert hatte. Nun sorgte aber der Lokalmatador für einen stürmischen Vorstoß.
Eine Sportnation in Ekstase
Was nun auf emotionaler Ebene passierte, kennt der europäische Sportfan maximal aus anderen Sportarten, nicht jedoch aus dem Laufsport. Die zig-tausenden Zuschauer, die sich über das gesamte Areal verteilten und daher schwer zu einer geschätzten Zahl zusammenzufassen sind, brachen in Jubelstürme aus. Fangesänge ertönten, die man nur aus Fußballstadien kennt. Flaggen wurden geschwenkt. Im Infield spurteten Teamkollegen, Betreuer und Trainer aus Uganda, ausgerüstet mit der Nationalflagge, mit Cheptegei ein Stück mit und schrieen ihn lauthals an. Die Anfeuerungen kannten keine Grenzen, Kampala, die Hauptstadt Uganda, hatte längst auf „Partymode: On“ geschaltet. Der für die Fernsehübertragung verantwortliche Regisseur ließ den Youngster nicht mehr aus den Augen und wollte keine Sekunde einer sporthistorischen Heldentat verpassen. Und kreierte einen täuschenden Eindruck einer Entscheidung, die noch gar nicht gefallen war. Die Welle der Begeisterung gipfelte in einer Ekstase, als wäre der sporthistorische Moment bereits in Stein gemeißelt.
Das Momentum auf der Seite des Verfolgers
5:34 Minuten – das war die Zeit, in der Cheptegei die vierte der exakt zwei Kilometer langen Runden absolvierte. Ein gewaltiger Kraftakt mit mehreren kleinen giftigen Anstiegen und rhythmusbrechenden, steilen Senken, aber ansonsten hervorragend belaufbarem Terrain. Elf Sekunden später folgte Kamworor, der Rest weit abgeschlagen. Der Jubel belastete weiterhin die Erträglichkeit des menschlichen Ohres, so laut war es auf der Haupttribüne gleich wie an den zu Naturtribünen umfunktionierten Hügeln am Streckenrand. Auch nicht, als Kamworor auf leisen Sohlen den Abstand verkürzte und den Rückstand halbierte. Cheptegei wirkte sehr angestrengt und müde. Anzeichen, die das Publikum nicht erkannte. Der lange Alleingang hatte zu viel Kraft gekostet, der Wind und die hohen Temperaturen forderten gnadenlos ihr Tribut für diesen verwegenen Versuch.
Der totale Einbruch
Und plötzlich ging alles ganz schnell! Kamworor saugte sich heran, zog vorbei und Cheptegei war geschlagen. Fast von einem Augenblick zum anderen gingen die Jubelstürme in einen Schockzustand über. Emotionale Begleiterscheinungen, die dem völlig erschöpften, armen Lokalmatador den Rest gaben. Cheptegei kämpfte nicht mehr mit stumpfen Waffen, er kämpfte gar nicht mehr. Wie viel der 21-Jährige von den letzten einigen hundert Metern überhaupt mitbekam, ist äußerst fraglich. Er taumelte. Alles wirkte irreal und war gleichzeitig bittere Realität. Sein Körper hatte keine Kraft mehr, die Sinne verloren ihre Schärfe, der Geist konzentrierte sich längst nicht mehr auf sportliche Ziele sondern auf das reine Überstehen dieser Strapazen.
In Rücklage trabte der gefallene Held dahin, wie eine wandelnde Antenne. Eine Karikatur über das Laufen hätte man nicht besser bildlich festhalten können, doch diese Situation war nicht lustig. Sie war besorgniserregend. Und befremdlich. In diesem Moment hätte jede jeder Freizeitläufer den Olympia-Fünften über 10.000m von Rio problemlos überholt. Wie ferngesteuert setzte der junge Läufer aus Uganda praktisch in Zeitlupe abwechselnd einen Fuß vor den anderen, millionenfach ausgeübte Bewegungsabläufe wurden jetzt automatisiert und kraftlos ausgeführt. Während dutzende Konkurrenten am hilflosen Cheptegei vorbeistürmten, hatte die Qual für ihn dann doch endlich ein Ende. Es war rund ein halber Kilometer, den Cheptegei nach dem Beginn seines Einbruchs zurückzulegen hatte, für ihn war es ein Marathon. Im torkelden Schritt überquerte er die Ziellinie, das Unterbewusstsein realisierte wohl erst in dem Moment, dass es geschafft war, als sich eine Menschentraube um ihn versammelte. Das war aus zwei Gründen essentiell: Erstens für die sofortige medizinische Betreuung und zweitens, um dem armen Cheptegei nach diesem beispiellosen Einbruch Schutz vor dem Auge der Weltöffentlichkeit zu bieten.
Eine bittere Erfahrung
Das mit vielen Vorschusslorbeeren betraute Lauftalent musste an diesem Tag eine Erfahrung erleben, die einen langen Zeitraum der Aufarbeitung und Überwindung benötigen wird. Der Schmerz der verlorenen Medaille wird verfliegen, noch schneller erfolgt hoffentlich die physische Regenartion. Aber die psychologische Narbe wird einen langen Heilungsprozess in Anspruch nehmen.
Triumphale Taktik
Zum Spitzensport gehört dazu, dass derartige Dramen wie Joshua Cheptegei, dazu noch vor eigenem Publikum, sich länger im Gedächtnis des Fans verankern als so mancher Sieg. Denkwürdig war jedoch auch der triumphale Erfolgslauf von Geoffrey Kamworor, der nicht aufgrund des Einbruchs von Cheptegei gewann, sondern in erster Linie auf Basis einer glänzenden Leistung – vor allen Dingen auf taktischer Ebene. Der favorisierte Kenianer ließ sich nicht von der verwegenen Strategie seines Widersachers zu einem zu hohen Tempo hinreißen, er kontrollierte den Anschluss und setzte den entscheidenden Konter mit einem giftigen Überholmanöver. Der 24-Jährige führte insgesamt nur rund einen Kilometer lang (er war auch in der zweiten Runde kurz an der Spitze des Feldes), doch er war an diesem Tag nicht zu schlagen. „Ich habe mich nur auf den Titel konzentriert. Ich wollte hier keineswegs das Areal verlassen und mich als ehemaliger Titelträger bezeichnen lassen müssen“, so der Kenianer nach dem Rennen. Kamworor hat in Kampala ein weiteres Mal untermalt, dass er zu den ganz großen seiner Zunft gehört. Im jungen Alter von 24 Jahren ist er nun bereits zweifacher Weltmeister im Halbmarathon und zweifacher Weltmeister im Crosslauf – beides in einer für die Konkurrenz besorgniserregenden Selbstverständlichkeit.
Kenianischer Doppelerfolg
Nicht nur dank Kamworor, sondern auch dank Leonard Barsoton erlebte der kenianische Verband (Athletics Kenya) genau jenen Zieleinlauf, den man sich vorgestellt hatte. Bei den kenianischen Meisterschaften lag Barsoton noch vorne, in Kampala hatte er keine Chance gegen seinen Landsmann. Daher ist die Silbermedaille, seine erste bei Crosslauf-Weltmeisterschaften, ein großer Erfolg und bescherte seiner Heimat den zweiten Doppelsieg in Folge. „Ich habe mir Sorgen gemacht, als ich gesehen habe, welchen Abstand Joshua zwischen sich und uns setzte. Wir sind unser Tempo weitergelaufen, das hat sich ausgezahlt. Ich bin sehr glücklich mit diesem Rennen“, freute sich der 22-Jährige. Wie schon in Guiyang 2015 – damals war es der diesmal sechstplatzierte Muktar Edris – holte sich ein Äthiopier die Bronzemedaille. Der erst 19 Jahre alte Abadi Hadis, 2016 Olympia-Teilnehmer, feierte seinen größten Erfolg bisher.
Medaille für Uganda – und Cheptegei
Trotz des Doppelsiegs hatte Kenia im Kampf um die Goldmedaille in der Teamwertung knapp das Nachsehen gegen Äthiopien. Vier Läufer pro Nation wurden gewertet. Und hätte der ugandische Sportgott, der sich dieses Drama für Joshua Cheptegei ausgedacht hatte, doch noch ein spätes Einsehen gehabt, verschaffte er dem gefallenen Held doch noch eine Medaille. Dass sich Cheptegei ins Ziel schleppte, obowhl bereits alle Lichter erloschen waren, zahlte sich aus. Als viertbester seines Landes auf Rang 30 sicherte er seinem Heimatland knapp vor Eritrea und den USA die Bronzemedaille in der Teamwertung. Dennoch hatte sich der Gastgeber natürlich ein besseres Resultat erwartet, mit Timothy Toroitich schaffte es gerade einmal ein Lokalmatador unter die besten Zehn. Marathon-Olympiasieger Stephen Kiprotich erzielte auf Rang 17 und behielt anschließend in der Analyse des Rennens kühlen Kopf: „Es tut mir so leid für Joshua, er war in Topform. Es ist traurig, dass er dieses Rennen nicht gewinnen konnte. Aber er hat einen schrecklichen Fehler gemacht und viel zu früh attackiert. Er hätte auf die letzte Runde warten müssen.“ Das sind die Worte eines Athleten, der schon viel erlebt und viel gewonnen hat. Vielleicht kommen genau von ihm die entscheidenden Tipps beim mentalen Wiederaufbau des ungeschliffenen Rohdiamanten Joshua Cheptegei.
Europa unter ferner liefen
Die ohnehin spärlich vertretenen europäischen Nationen erlebten ein waschechtes Debakel. Nachdem der Türke Polat Kemboi Arikan und der Spanier Adel Mechaal, die beiden aussichtsreichsten Europäer im Rennen, das Ziel nicht erreichten, belegte der beste Europäer Rang 50 – Sergio Sanchez aus Spanien. In der Teamwertung konnte sich keine der europäischen Nationen platzieren, dafür wären vier Einzelresultate notwendig gewesen. Im Crosslauf dominieren afrikanische Nationen, das ist keine neue Erkenntnis. Doch im Gegensatz zu den desolaten Europäern (viele Nationen sparten sich die Teilnahme) schafften es US-Amerikaner und Australier mit ansprechenden Leistungen in die Top-20.
Gold: Äthiopien 21 Punkte Silber: Kenia 22 Punkte Bronze: Uganda 72 Punkte
4. Eritrea 75 Punkte
5. USA 78 Punkte
6. Burundi 120 Punkte
7. Tansania 146 Punkte
8. Australien 154 Punkte
9. Südafrika 160 Punkte
10. Ruanda 219 Punkte Crosslauf-Weltmeisterschaften 2017 in Kampala
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