Durststrecke der US-Damen endet bei stürmischem Boston Marathon

© Boston Marathon / Getty Images
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Die US-amerikanischen Marathon-Fans hatten einen Traum: Wenige Monate, nachdem Shalane Flanagan als erste US-Amerikanerin seit 40 Jahren den New York City Marathon gewinnen konnte, sollte auch die 33 Jahre andauernde Durststrecke der US-Läuferinnen beim Boston Marathon enden. Dafür stand das wohl leistungsstärkste, heimische Elitefeld in der Neuzeit der Marathon-Historie an der Startlinie. Vielleicht gibt es abgesehen von der unerreichbaren Super Bowl kein Sportevent, das den Stolz und den Patriotismus des US-amerikanischen Volkes so gut repräsentiert wie der traditionsreichste Marathonlauf der Welt. Zum 122. Mal ging er über die Bühne, zum 53. Mal mit Frauen im Endergebnis. Die Voraussetzungen für den Patriots’ Day waren also bestens.
Und tatsächlich: Im Chaos der unfreundlichen Bedingungen realisierten sich die Hoffnungen. Desiree Linden ist die erste Lokalmatadorin seit Lisa Weidenbach (verheiratet Rainsberger) im Jahr 1985, die beim Klassiker triumphierte. Damit geht endgültig eine symbolische Durststrecke zu Ende. Erstmals seit dem Ende der Ära um Premieren-Olympiasiegerin Joan Benoit kann die USA im Marathonlauf wieder flächendeckend mit der Weltspitze mithalten – zumindest bei ausgewählten Events. Die Ausnahme war US-Rekordhalterin Deena Kastor, die 2006 den London Marathon gewinnen konnte.
 

Überraschungssiegerin

Die Spekulationen auf einen Heimsieg waren im Vorfeld keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Es stach jedoch ein Joker, den nur wenige auf der Rechnung hatten. Nicht Jordan Hasay, die kurzfristig mit Schmerzen an der Ferse ihren Start absagte. Nicht Shalane Flanagan, die Siegerin des New York City Marathon, deren möglicher Abschiedsmarathon nicht nach Wunsch verlief. Nicht Molly Huddle, der der Boston Marathon eine Lehrstunde erteilte. Es jubelte Desiree Linden – und wie! Die 34-jährige Olympia-Siebte von Rio de Janeiro feierte ihren mit Abstand größten Erfolg. Dass die Uhr erst nach 2:39:54 Stunden stehen blieb – in der langsamsten Siegeszeit seit Gayle Barron im Jahr 1978 (!) – war den denkwürdigen Bedingungen geschuldet. Und für Desiree Linden dank des traumhaftes Resultats eine unbedeutende Randnotiz!
 

Chaos in Wind und Regen

Strömender Regen und starker Gegenwind, der den Läuferinnen und Läufern zeitweise das vom Himmel fallende Wasser horizontal ins Gesicht blies, und Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt waren die würzigen Zutaten eines in dieser Form fast einzigartigen Marathonlaufs. Eine Herausforderung, die bei Frauen wie Männern ordentlich an den Nerven zehrten – bis hin zu zahlreichen Aufgaben der Elite. Bedingungen, die für einen chaotischen und unvorhersehbaren Rennverlauf und demnach viel Dramatik sorgten. Verhältnisse, die Sensationen favorisieren. Erst bei Kilometer 20 lag die spätere Siegerin erstmals in den Top-Ten und lief zwischen dieser Zwischenzeit und der Halbmarathon-Durchgangszeit eine Lücke von 13 Sekunden zu.
Jetzt schlug die Stunde der 34-Jährigen, die im Winter, ohne wirklich zu überzeugen, in Europa einige Straßenläufe auf Unterdistanzen bestritten hat. Zwei recht ausgeglichene Marathon-Hälften von 1:19:42 und 1:20:12 Stunden führten zu einem überlegenen Sieg in 2:39:54 Stunden. Die Vorentscheidung fiel zwischen Kilometer 30 und Kilometer 35, das schwierigste Teilstück der legendären Strecke von Hopkinton nach Boston mit dem berüchtigten Heartbreak Hill. Linden wandelte einen 25-sekündigen Rückstand auf die entwischte Äthiopierin Mamitu Daska in einen elfsekündigen Vorsprung um. Fünf Kilometer später, nach dem abschüssigen Streckenteil Richtung Küste, hatte Linden auch die Kenianerin Gladys Chesir um über drei (!) Minuten abgehängt. Daska, zweifache Siegerin des Frankfurt Marathon, erreichte das Ziel genauso wenig wie Chesir, die anscheinend auf eine uninteressante Platzierung verzichtete.
 

Falsche Renneinteilung trotz gemütlichen Starts

Das Rennen begann um kurz nach halb Zehn Ortszeit so gemütlich, dass nach fünf Kilometern acht Läuferinnen aus der eine halbe Stunde später startenden Masse eine schnellere Zwischenzeit erzielten als die Elite, die bei einer Zeit von 19:17 Minuten die Zwischenzeit überquerte. Es folgten 5km-Abschnitte von 17:50, 19:06 und 19:30 Minuten (jeweils die Bestzeiten), ehe der Halbmarathon von einer größeren Gruppe in 1:19:41 Stunden erreicht war. Trotz dieser statistisch langsamen ersten Hälfte hatten zahlreiche auch erfahrene Marathonläuferinnen das Rennen völlig falsch eingeteilt und büßten auf der zweiten Hälfte dafür. So unwirtlich und grausam waren die Bedingungen an diesem Tag!
 

Triumph unter dem Jubel der Zuschauer

Mamitu Daska griff kurz nach dem Halbmarathon an und setzte sich mit dem schnellsten Teilabschnitt dieses Marathons (18:03 Minuten zwischen Kilometer 20 und 25, Anm.) ab. Bei Kilometer 25 lag sie eine knappe halbe Minute vor der Verfolgergruppe. Bei Kilometer 30 hatte sie 25 Sekunden Vorsprung auf das Verfolgerduo Gladys Chesir und Desiree Linden. Rund acht Kilometer vor dem Ziel zogen die unerfahrene Chesir (zweiter Marathon) und Linden an der Äthiopierin vorbei, deren Rennen kurze Zeit später zu Ende war. Was folgte, war eine One-Woman-Show der mit einer schwarz-gelben Jacke laufenden Lokalmatadorin. Unter dem Jubel der aufgrund des Wetters erstaunlich zahlreichen, mit Regenschirmen ausgerüsteten Zuschauer vollendete die Amerikanerin ihr Werk auf den langen Geraden Bostons ungefährdet. „Heute hatten alle nur ein Ziel: das Ziel“, erzählte sie. Später gab sie zu, im ersten Renndrittel gedacht zu haben, dass sie aufgeben würde. Linden erarbeitete sich einen Vorsprung von 4:10 Minuten, den größten in Boston seit 25 Jahren! Die Emotionen über den großen Triumph überdeckten die offensichtlichen Anstrengungen eines der schwierigsten Marathons der letzten Jahre. „Es war extrem unübersichtlich heute. Als ich in Führung ging und mich irgendwann umblickte, begann ich mich mit dem Gedanken zu beschäftigen, dass ich gewinnen würde“, schilderte sie. Linden bestritt zum sechsten Mal den Boston Marathon, zum vierten Mal in Serie landete sie auf einem einstelligen Rang.
 

Profi- und Freizeitsport vermischen sich

Eines wurde beim Boston Marathon 2018 deutlicher denn je. Die brettharten Bedingungen vermischten den elitären Profisport mit dem ambitionierten Freizeitsport mit maximal halbprofessioneller Herangehensweise. Titelverteidigerin Edna Kiplagat rettete sich am Ende auf Rang neun ins Ziel. Es ist ihr genauso hoch anzurechnen, das Rennen zu beenden wie Molly Huddle und Shalane Flanagan. Huddle, die unter Zahnschmerzen litt, brach in ihrem erst zweiten Marathon auf der zweiten Hälfte völlig ein und erhielt eine Lehrstunde, die ihren Erfahrungsschatz enorm erweitern wird. Rang 16 in 2:50:28 Stunden, nachdem sie bei Kilometer 30 noch vor Flanagan und Kiplagat gelegen war. Und Shalane Flangan? Die 36-Jährige wollte ein halbes Jahr nach ihrem Sensationssieg in New York beim Heimrennen Abschied von der großen Sportbühne nehmen. Am Ende kam sie als Siebte im Ziel an, nachdem sie kurz vor Halbzeit eine Toiletten-Pause einlegen musste. Der Wettergott hatte keine Pläne, ihr einen strahlenden Abschied zu schenken. Ob ihr in der Schlussphase des Rennens der Gedanke gekommen ist, dass es sinnvoller gewesen wäre, nach dem New York City Marathon 2017 ihre Karriere zu beenden? Es ist offener denn erwartet, ob Flanagan nicht doch vielleicht einen weiteren Marathon bestreitet…
 

Wie im (Marathon-)Märchen

Die Kanadierin Krista Duchene, die eine spannende Aufholjagd bei Kilometer 30 erstmals in die Top-Ten und am Ende auf das Stockerl spülte, war neben Linden am Ende die einzige ausgewiesene Eliteläuferin in den Top-5 dieses unglaublichen Rennens. Duchene, die im Alter von 41 Jahren unverhofft noch einmal einen Top-3-Platz bei einem World Marathon Major (WMM) einfuhr, verlor auf den letzten 12,195 Kilometer lediglich 57 Sekunden auf die Siegerin Desiree Linden. So bejubelt der US-Marathonsport nicht nur eine heimische Siegerin, sondern gleich sieben (!) US-Amerikanerinnen in den Top-acht! Drei der besten Fünf – die zweitplatzierte Sarah Sellers, die viertplatzierte Rachel Hyland und die fünftplatzierte Jessica Chichester – waren selbst amerikanischen Experten kaum ein Begriff. Sie alle zeichneten sich mit einer gelungenen Renneinteilung aus. Die aus Utah stammende Sellers, die das Startgeld aus eigener Tasche bezahlt hatte, lag bis wenige Kilometer vor dem Ziel nie in den Top-Ten und vollendete eine unfassbare Aufholjagd in einer Zeit von 2:44:04 Stunden auf dem zweiten Platz. Keine war in der Schlussphase so schnell wie sie. Es folgten die Teilzeiten von Hyland, 45. bei den US-amerikanischen Trials für die Olympischen Spiele 2016 (!), Duchene, Jessica Chichester, die im Feld der Masse gestartet war, und Nicole Dimercurio. Als einzige aus dem Favoritenkreis konnte Siegerin Desiree Linden mit den Leistungen dieser Läuferinnen mithalten. Lindens zweite Rennhälfte von 1:20:12 Stunden war die schnellste im Feld. Eines haben alle genannten Läuferinnen gemeinsa: Sie fuhren das Resultat ihres Lebens ein!
 

Historische Niederlage für Afrika

Trotz der Wetterbedingungen, bei dem man sprichwörtlich nicht einmal den Hund vor die Tür schickt, finishten 25.746 der 29.978 angemeldeten Läuferinnen und Läufer – darunter 11.604 Finisherinnen. Auf Platz 20 lief die US-amerikanische WM-Teilnehmerin Serena Burla ins Ziel – ein besonderer Erfolg. Erst im Spätsommer hat sie zum zweiten Mal in ihrem Leben operativ einen Tumor entfernt bekommen. Zum Schluss noch ein historisches Alleinstellungsmerkmal im modernen Marathongeschäft. Nur eine – wohl gemerkt eine – afrikanische Läuferin landete in den Top-20 (Edna Kiplagat auf Rang neun). Von den letzten 24 Marathons in Boston gab es 19 afrikanische Siege – das schlechteste Resultat in dieser Zeitspanne war ein vierter Platz.
 
Der RunAustria-Bericht des Männer-Rennens: Das Phänomen und seine Sensation
 

Ergebnis Boston Marathon der Frauen

1. Desiree Linden (USA) 2:39:54 Stunden
2. Sarah Sellers (USA) 2:44:04 Stunden
3. Krista Duchene (CAN) 2:44:20 Stunden
4. Rachel Hyland (USA) 2:44:29 Stunden
5. Jessica Chichester (USA) 2:45:23 Stunden
6. Nicole Dimercurio (USA) 2:45:52 Stunden
7. Shalane Flanagan (USA) 2:46:31 Stunden
8. Kimi Reed (USA) 2:46:47 Stunden
9. Edna Kiplagat (KEN) 2:47:14 Stunden
10. Hiroko Yoshitomi (JPN) 2:48:29 Stunden
11. Joanna Thompson (USA) 2:48:31 Stunden
12. Dot McMahan (USA) 2:48:57 Stunden
13. Veronica Jackson (USA) 2:49:41 Stunden
14. Rebecca Snelson (USA) 2:49:50 Stunden
15. Margaret Vido (USA) 2:50:11 Stunden
16. Molly Huddle (USA) 2:50:28 Stunden
17. Andrea Alt (USA) 2:50:41 Stunden
18. Naomi Fulton (USA) 2:50:48 Stunden
19. Kathleen O’Neill (USA) 2:52:44 Stunden
20. Serena Burla (USA) 2:53:03 Stunden
 
Boston Marathon

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