Das Phänomen und seine Sensation

© Boston Marathon / Getty Images
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Es ist der Stoff für einen Hollywood-Film. Eine Geschichte vom Tellerwäscher zum Milliardär, die den US-amerikanischen Gesellschaftstraum widerspiegelt. In diesem Fall, vom Schuldiener zum Milliardär. Symbolischen Milliardär. Besser hätten die Film-Könner aus Hollywood den Boston Marathon 2018 nicht inszenieren können. Fürchterliche äußere Bedingungen, dramatisch-chaotische Ereignisse. Ein Favorit, dessen Sieg eigentlich schon sicher war und ein Außenseiter, der endgültig zum Triumph läuft. Ein Amateur, der alle Profis in einem namhaften Feld besiegt. Der Held aller. „The Citizen Runner“. Oder: „The People’s Marathoner“, wie Let’sRun.com ihn taufte.
 

Japanische Premiere

Der Jubelschrei inklusive eines ausdrucksstarken Gesichtsausdruck hinter der Ziellinie brachte mehr als tausend Worte zum Ausdruck. Es war der Schlussakt einer unfassbaren Vorstellung. Yuki Kawauchi, ein japanischer Läufer der bekannter ist als zig-Stars aus Afrika, gewinnt sensationell das traditionsreichste Marathon-Rennen der Welt. Der 31-Jährige ist  deshalb so bekannt, beliebt, begehrt, weil er gefühlt immer läuft. Einen Marathon pro Monat im Schnitt, dazwischen zur „aktiven Erholung“ Halbmarathons und Straßenläufe. Manchmal ein Ultra zum drüberstreuen. Einmal lief er binnen zwei Wochen zwei Marathons unter 2:10 Stunden. Er hält praktisch alle Rekorde, was qualitative Quantität betrifft. Zum 79. (!) Mal ist er beim Boston Marathon unter 2:20 Stunden geblieben, 26 Marathons unter 2:12 Stunden hat er auf der Habenseite. Und das alles als Amateur. Als Amateur! Ohne Trainer, ohne Trainingspartner. In einem Vorort von Tokio geht Kawauchi einem Vollzeit-Job an einer Schule nach. Ändern will er das nicht.
Nur eines hat sich schlagartig verändert: Zukünftig wird Kawauchi nicht mehr nur als Phänomen, als Typ mit schier nicht enden wollender, positiver Verrücktheit bekannt sein, sondern als Sieger des Boston Marathon. Als erster japanischer Sieger eines World Marathon Major (WMM)! Für ein Land, das eine riesige Lauftradition hat wie Japan, ist das eine bedeutende Besonderheit.
 

Fokus auf sich

Selten war die Aussage, dass sich ein Sportler 100%ig auf sich fokussiert und den Rivalen keine Aufmerksamkeit geschenkt hat, so zutreffend wie gestern. Yuki Kawauchi ließ in seiner Art alle Vorzeichen der Vernunft mit dem Startschuss fallen und rannte wie von einer Tarantel gestochen los. Die Konkurrenz war zum ersten und nicht letzten Mal völlig verdutzt. Der Japaner führte fünf Kilometer lang, doch im Gegensatz zu vor vier Jahren (damals Meb Keflezighi) ließ das Feld den Ausreißer nicht ziehen. Bei Wind, Regen, Kälte und Sturm war höchste Vorsicht geboten!
 

Chaotischer Beginn

Die ersten zehn Kilometer des Rennens waren mit Teilabschnitten von 15:01 Minuten (Kawauchi) und 15:08 Minuten (Tamirat Tola) die mit Abstand schnellsten während des gesamten Marathons. Rückblickend lautet die Analyse: Kawauchi hat sein Ziel erreicht und mit seinem Harakiri-Start die Rivalen entscheidend aus der Wohlfühlzone (sofern dieser Begriff bei derartigem Wetter verwendet werden darf) geholt. Einen Mann, der zu Jahresbeginn nahe Boston einen Marathon bei Temperaturen von -13°C unter 2:20 Stunden bestritten hat, konnten Wind und Regen jedenfalls nicht umhauen. Sein großer Vorteil, wie er später zugab. Erst kurz vor der Halbzeit hat sich ein chaotischer Rennbeginn völlig beruhigt, nach 1:05:59 Stunden war mit Titelverteidiger Geoffrey Kirui und einer mittlerweile wieder großen Spitzengruppe die erste Streckenhälfte vorbei.
 

Kiruis Attacke

Nach wie vor konzentrierte sich Kawauchi nur auf sein Tempo – lief einmal am Ende der Spitzengruppe, einmal vorne, ganz zwanglos. So wie die Italiener Ruggero Pertile und Daniele Meucci beim WM-Marathon 2015, damals unter ganz anderen klimatischen Verhältnissen. Dahinter taten sich erste grobe Probleme auf: Die bis dato gut laufenden Äthiopier Lemi Berhanu, Lilesa Desisa und Tamirat Tola stiegen in dieser Rennphase aus. Keiner der sechs äthiopischen Eliteläufer (Frauen und Männer addiert) erreichte an diesem Tag das Ziel!
Nach diesem bis dato turbulenten Rennen schien dann doch alles den gewohnten Gang zu nehmen. Als Titelverteidiger Geoffrey Kirui vor der Zwischenzeit bei Kilometer 30 attackierte, wusste keiner, dass die dramatischste Phase noch folgen sollte. Der kenianische Weltmeister lief locker vorne weg und erwirtschaftete sich alle Vorteile. 28 Sekunden Vorsprung auf das Trio Kawauchi, Abdi Nageeye und dem überraschend starken US-Amerikaner Shadrack Biwott bei Kilometer 30, 1:31 Minuten Vorsprung auf Kawauchi bei Kilometer 35. Der Laufstil erinnerte stark an Olympiasieger Eliud Kipchoge. Nun, wo der mit einer transparent-weißen Trainingsjacke bekleidete Top-Favorit den leichtesten Streckenteil der so schwierigen Marathonstrecke von Hopkinton nach Boston erreicht hatte, begann sich das Blatt zu wenden.
 

Überholmanöver

Schlagartig kam Yuki Kawauchi, der sich nun klar von Biwott gelöst hatte, näher. Nur 20 Sekunden fehlten bei der Zwischenzeit bei Kilometer 40. In Sieben-Meilen-Stiefeln verkürzte der Japaner den Abstand und zog vorbei am wehrlosen Kenianer, der völlig entkräftet nur noch Passagier seiner Instinkte war. Die Teilzeiten des Abschnitts zwischen Kilometer 35 und Kilometer 40 sprachen Bände: Kirui 17:33, Kawauchi 16:22 Minuten. Der Japaner lief mit Energie und Entschlossenheit Richtung Ziel. Nach 2:15:58 Stunden war eines der denkwürdigsten Rennen in der 122-jährigen Geschichte des Boston Marathon mit einem Sensationssieger beendet. Eine langsamere Siegerzeit gab es zuletzt vor 42 Jahren, hauptsächlich den Ausnahme-Wetter geschuldet. Es passt ins Bild, dass ein Amateurläufer und ein Viel-Läufer mit diesen Bedingungen am besten zurecht kam. Kawauchi konnte die Konstanz auf die Straße bringen und nützte seine Chance, die ihm ein langsames Rennen bot. Der Japaner war der einzige im Spitzenfeld, dessen zweite Marathon-Hälfte weniger als vier Minuten langsamer war als die erste! Quizfrage für die Experten: Der letzte japanische Sieger beim Boston Marathon war…
… der unvergessene Toshihiko Seko in den Jahr 1981 und 1987. „Sekos Sieg war in dem Jahr, als ich geboren wurde. Ich kann nicht anders, als das Schicksal zu erwähnen“, grinste Kawauchi. In der Zwischenzeit gab es durch den Koreaner Lee Bong-Ju im Jahr 2001 noch einen asiatischen Erfolg bei der von Afrikanern dominierten Veranstaltung.
 

Denkwürdiger zweiter Platz für den Weltmeister

Und so stellte sich die Frage, wie es passieren konnte, dass Geoffrey Kirui sich diese Butter vom Brot nehmen ließ. Einfache Antwort: Der relativ unerfahrene Shooting-Star des letzten Jahres hatte eine mutige Strategie, aber sich die Kräfte ob der widerlichen Wetterverhältnisse nicht richtig eingeteilt. Der 25-Jährige brach völlig ein, absolvierte die letzten Kilometer mit den allerletzten Kräften. Die letzten Meter auf der Zielgerade wankte er bedenklich. Er torkelte, fiel aber nicht. Kirui rettete mit letzter Kraft den zweiten Platz und erlebte ein Rennen, das er so schnell nicht vergessen wird. Am Ende war er gemeinsam mit dem in den USA lebenden Stephen Sambu, der ebenfalls in der Schlussphase einging, der einzige Afrikaner in den Top-20.
 

Überraschte und Enttäuschte

Wie bei den Frauen favorisierten die Umstände zahlreiche Sensationen. Wer über Überraschungen spricht, bleibt nicht nur bei Yuki Kawauchi hängen. Der gebürtige Kenianer und für die USA startende Shadrack Biwott schaffte nach einem tollen Rennen den Sprung auf das Podest. Hätte der Boston Marathon 42,3 Kilometer, wäre er Zweiter geworden. Landsmann Tyler Pennel war 30 Kilometer lang nie im Blick und finishte als Vierter. Ähnliches darf über Andrew Bumbalough und Scott Smith auf den Rängen fünf und sechs erzählt werden. Der holländische Rekordhalter Abdi Nageeye lag zwischenzeitlich vor Kawauchi auf Rang zwei. Zur ultimativen Sensation schaffte er es nicht, am Ende kam er als Siebter ins Ziel.
Zahlreiche Eliteläufer scheiterten beim Versuch, den Marathon vernünftig zu Ende zu laufen. Auch US-Star Galen Rupp warf das Handtuch und erlitt im fünften Karriere-Marathon die erste empfindliche Niederlage. Viel früher war das Rennen für Arne Gabius zu Ende. „Meine Wadenmuskulatur hat sofort dicht gemacht“, erklärte er über soziale Netzwerke seinen Ausstieg nach zehn Kilometern.
 

Laznicka mit tollem Ergebnis in der Mastersklasse

Zwei Ergebnisse sind abschließend noch wichtig: Der Österreicher Peter Laznicka (LG Wien) erzielte in einer Zeit von 3:16:19 Stunden angesichts der Bedingungen ein verdienstvolles Resultat, das ihm Rang sechs in der Altersklasse 60-64 einbrachte. Und der Brite Tim Don, ein Triathlet, trat nur ein halbes Jahr nach einem schweren Unfall an. Im Oktober 2017 wurde er beim Training für den Ironman auf Hawaii von einem Auto angefahren und brach sich den zweiten Halswirbel.
 
Der RunAustria-Bericht des Frauen-Rennens: Durststrecke der US-Damen endet bei stürmischem Boston Marathon
 

Ergebnis Boston Marathon der Männer

1. Yuki Kawauchi (JPN) 2:15:58 Stunden
2. Geoffrey Kirui (KEN) 2:18:23 Stunden
3. Shadrack Biwott (USA) 2:18:35 Stunden
4. Tyler Pennel (USA) 2:18:57 Stunden
5. Andrew Bumbalough (USA) 2:19:52 Stunden
6. Scott Smith (USA) 2:21:47 Stunden
7. Abdi Nageeye (NED) 2:23:16 Stunden
8. Elkanah Kibet (KEN) 2:23:37 Stunden
9. Reid Coosaet (CAN) 2:25:02 Stunden
10. Daniel Vassallo (USA) 2:27:50 Stunden
11. Daniel Daly (USA) 2:27:54 Stunden
12. Matthew Herzig (USA) 2:27:55 Stunden
13. Benhamin Tywicki (USA) 2:28:02 Stunden
14. Stephen Sambu (KEN) 2:28:07 Stunden
15. Abdi Abdirahman (USA) 2:28:18 Stunden
16. Daniel Tapia (USA) 2:28:38 Stunden
17. Tate Schienbein (USA) 2:28:53 Stunden
18. Christian Thompson (USA) 2:29:01 Stunden
19. Matt Marol (USA) 2:29:12 Stunden
20. Jesse Anderson (USA) 2:29:19 Stunden
 
Boston Marathon

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